Cyberpunk 2077

(Copyright: CD Project RED)

Vor acht Jahren wurde der erste Trailer von Cyberpunk 2077 gezeigt, die anschließende Entwicklung zog sich ewig hin, der Releasetermin wurde schließlich drei Mal verschoben. Am Ende glaubte schon niemand mehr an eine Veröffentlichung im Jahr 2020. Doch jetzt ist es doch noch passiert: Das am meisten erwartete Game der letzten Jahre ist endlich da. Und während die PC-Version zurecht gefeiert wird, hagelt es bei der aktuellen Standard-PS4 und Xbox One-Version heftige Kritiken. Warum das so ist – das erzähle ich euch jetzt mal.

Audio/Podcast zum Gamecheck:

Welcome to Night City

Schauplatz des futuristischen Action-Rollenspiels ist die neongrelle, dystopische Metropole Night City, ein Moloch von Stadt irgendwo in Kalifornien. Ein „gestörtes, sozialdarwinistisches Experiment, designt von einem gelangweilten Wissenschaftler mit dem Daumen auf der Vorspultaste“, wie es Neuromancer Autor William Gibson einmal beschrieb. Die Häuserschluchten im Zentrum sind geprägt von zig Stockwerke hohen Mietskasernen und glitzernden Bürotürmen, während sich unten zweifelhafte Etablissements, Fastfood-Läden, Drogenhöllen und die Praxen von Klempnern, die den Menschen Upgradeteile vom Schwarzmarkt verpassen und von  Schönheitsmetzgern aneinanderreihen und Kleinkriminelle die Straßen unsicher machen.

Die heruntergekommenen Außenbezirke dagegen sind fest in der Hand der Gangs, die Polizei traut sich hier schon lange nicht mehr her. All die Stadtteile sind von Beginn an frei geschaltet und können jederzeit unabhängig vom Spielstand besucht werden. Und nein, nicht alle Gebäude sind begehbar, oft steht man vor verschlossenen Türen. Was der Realität aber keinen Abbruch tut, so geht’s euch ja auch, wenn ihr sonst wo in einer fremden Stadt unterwegs seid. Kein Grund also, sich darüber zu beschweren.

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V. – nicht verwandt mit Nintendo

Ihr spielt den Söldner V. Oder sie Söldnerin, das liegt ganz bei euch, der Charakter-Editor ist eine Pracht und lässt euch Sachen festlegen, die ihr eigentlich gar nicht so genau wissen wollt. Ja, selbst die Genitalgröße und die Farbe der Schambehaarung. Ändert zwar am Spielverlauf nix (Bisher jedenfalls nicht), und sehen kann man das wegen der Egoperspektive eh nur vor einem Spiegel, aber wer mag, kann sich sogar da austoben.

Aber wichtiger ist da wohl z.B. die Verteilung der Attributpunkte der Skilltrees und die Frage, ob ihr als Nomade vor der Stadt, als toughes Streetkid oder als Corpo, also als Mitglied eines der Megakonzerne das Spiel beginnen wollt. Ich hab da die Street Kid-Variante gewählt und weiß jetzt nicht, ob die anderen beiden übermäßig unterschiedlich verlaufen zu Beginn. Mein V jedenfalls war gerade nach ein paar Monaten aus Atlanta zurück und begann, sich neue Connections aufzubauen und sich nach kleinen Söldner-Jobs umzuhören.

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Wie alles beginnt…

Gleich mein erster Auftrag – der Diebstahl eines Sportwagen-Prototypen – hört sich nach einem easy Job an, geht aber voll in die Hose. Immerhin lernt V dabei erst seinen Kollegen Jackie Welles und dann über Umwege Dexter DeShaun kennen, der ihm den Weg in eine andere Liga verspricht. Er habe einen Riesenjob für mich, den Diebstahl eines Highend-Biochips. Und natürlich soll es auch da keine Probleme geben. Nach vielen Vorbereitungen und kleineren Jobs vorweg – unter anderem muss ein Spezialroboter besorgt werden – steigt die Sache schließlich. Und ohne jetzt zu viel verraten zu wollen: Der Biochip wird erbeutet, wenn auch unter widrigen Umständen mit einer Menge unerwarteter und ungeplanter Begleiterscheinungen.

Am Ende muss V. den Chip in seinem Kopf verstecken, er landet auf einer Müllkippe und muss feststellen, dass er einen ungewollten Untermieter im, Schädel hat. Der Moment, wo dann endlich die tote Rocklegende und Terrorist Johnny Silverhand auftaucht, genial gut gespielt von Keanu Reeves. Was ja an sich schon kein Grund zum Jubeln ist, doch eröffnet sich dadurch ein viel drängenderes Problem: Der Biochip hat begonnen, V.s Persönlichkeit zu überschreiben – in ein paar Wochen wird der Söldner gänzlich ausgelöscht sein.

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Oh Johnny, du kleiner Teufel

Wovon V. logischerweise gar nicht so begeistert ist. Zudem erweist sich Johnny anfangs als echt nerviger Kotzbrocken, der V. die letzten Tage nicht unbedingt einfacher machen will. Erst arbeitet er noch gegen V. und wünscht sich, dass der sich doch bitte endlich das Hirn wegblasen möge, sieht dann aber irgendwann ein, dass das ja auch für ihn ja Konsequenzen hätte. Von da an ist er der kleine Teufel auf eurer Schulter, der eure Aktionen kommentiert, euch ungefragt Ratschläge gibt und sich immer dann meldet, wenn es gerade so gar nicht passt. Mit seiner durch und durch rücksichtslosen, kaputten Art setzt er im Spiel einen echten Glanzpunkt, Keanu Reeves ist da eine Topbesetzung, der augenscheinlich viel Spaß an seiner Rolle hatte. Damit ist der rote Faden, der sich durch Cyberpunk 2077 zieht, geklärt – V.s Versuch, sein angekündigtes und scheinbar unvermeidbares baldiges Ende doch noch irgendwie zu stoppen.

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Toll erzählte Geschichte und abwechslungsreiche Quests

Storytelling und die perfekte Dramaturgie waren schon immer die größte Stärke von CD Project Red – man denke nur an Witcher 3, bis heute einem der besten Games überhaupt in dieser Beziehung. Cyberpunk setzt da fraglos noch einen drauf. Keine Sekunde scheint da überflüssig zu sein oder nur als Zeitschinderei eingebaut, wie in so vielen anderen Games. Immer neue Abzweigungen, neue Nebengeschichten, neue vielschichtige Charaktere halten die Motivation weit oben, jede Entscheidung kann schwerwiegende Konsequenzen haben.

Wer da nur den Hauptquests nachjagt – und selbst damit schon locker 20-30 Stunden beschäftigt wäre – ist selber schuld, denn auch die unzähligen Nebenaufgaben, die sich oft über mehrere verzweigte Missionen erstrecken, bergen zuweilen ungeahnte Schätze. Wie zum Beispiel der Auftrag einer KI, der einen Chauffeurdienst betreibt, seine durchgebrannten Selbstfahrautos wieder einzusammeln – und wir uns dann in einer philosophischen Grundsatzdiskussion mit einem der Fahrzeuge wiederfinden. Kubriks 2001 und sein HAL 9000 lassen herzlich grüßen. Aber selbst, wenn ihr warum auch immer beschließen solltet, sämtliche Missionen außen vor zu lassen und einfach nur Night City mit all seinen Facetten und Abgründen erleben wolltet, wäre das ein Unterfangen für Monate – und eines, das euch gut unterhalten und beschäftigen würde. Allein schon, was die Entwickler da an Zukunftsvisionen auffahren, ist aller Ehren und erlebenswert. Wie etwa der „Brain Dance“, wo ihr gegen Bezahlung zum Teil heftige Ereignisse aus der Sicht der Protagonisten mitsamt ihren Emotionen erleben könnt. So wird beispielsweise eine eure Informantinnen entführt und soll für Brain-Dance-Snuff-Videos missbraucht werden, wenn ihr sie nicht rechtzeitig rettet. Alles hat hier wie gesagt seinen Platz und Sinn, nichts wirkt aufgesetzt.

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Cyberpunk als Action-RPG

Und natürlich ist Cyberpunk 2077 auch immer noch ein Action-Rollenspiel mit den üblichen Mechanismen. So verdient ihr euch während der Missionen Eddies – die Währung in Night City – die ihr wiederum in Fahrzeuge, Ausrüstung, Waffen oder Kleidung, aber auch in Körpermodifikationen und Implantate vom Ripperdoc stecken könnt. Zugleich bessert ihr damit euren Ruf auf. Je besser der ist, desto mehr Punkte gibt’s für den Skilltree und neue Attribute, die euch besser werden lassen – wobei die wirklich coolen Sachen doch erst ziemlich spät auftauchen. Besser müsst ihr aber auf jeden Fall irgendwie werden, denn nicht alle Missionen sind auf niedrigem Level zu schaffen. Zum Glück könnt ihr euch zum einen aussuchen, wann ihr welchen Job machen wollt, zum anderen steht auch immer gleich der Schwierigkeitsgrad mit dabei. Ihr könnt aber auch fast überall frei euren Spielstand sichern.

In Waffen und Rüstung müsst ihr eher weniger investieren, da erledigte Gegner meist mehr Loot wegschmeißen als ihr tragen könnt. Das meiste vertickert ihr dann schnell wieder an Verkaufsautomaten, die überall herumstehen oder zerlegt den Krempel, um mit den so gewonnenen Teilen was Neues zu bauen oder bestehende Sachen zu pimpen. Die schiere Menge an Lootkrams ist aber ein wenig oldschool und wird schnell unüberschaubar, da wäre weniger deutlich mehr gewesen.

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Solider Shooter, geringer Fahrspaß

Apropos Waffen und Gegner: Die First-Person-Action funktioniert ordentlich, die Shoot& Hide-Mechanik ist für ein Rollenspiel ok, wenn auch manchmal etwas unausgewogen. Nachdem ich zum Beispiel einem Bossgegner gefühlt tausend Kugeln in seinen Schädel gepumpt hatte, ohne das es ihn sonderlich gejuckt hätte, hab ich ihn mit meinem Katana dann in Sekundenschnelle niedergestreckt. Aber wie gesagt: Für ein Rollenspiel ist das ok, einen Shooter solltet ihr aber nicht erwarten. Das will Cyberpunk aber auch gar nicht sein. Und wer nicht kämpfen will, kann auch Schleichen oder Hacks gegen die Gegner einsetzen. Deren KI ohnehin oft recht durchwachsen ist.

Und ja, ihr könnt auch eine Beziehung mit einem Mann oder einer Frau beginnen, oder auch mit gekauften oder geklauten Autos oder Motorrädern durch Stadt und Land karriolen, aber so richtig schön ist letzteres  – trotz Umschaltmöglichkeit auf eine 3rd-Person-View – nicht wirklich; die Fahrdynamik erinnert da eher an den berühmten Schluck Wasser in der Kurve – und auch Ampeln haben in Night City anscheinend lediglich die Aufgabe, die Stadt zu beleuchten.

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Und was ist mit den Bugs?

Gespielt habe ich Cyberpunk 2077 auf der PS5 – und da hielten sich die auf der Standard PS4 und Xbox One viel gescholtenen Bugs, Abstürze, Glitches und Unspielbarkeiten in überschaubaren Grenzen. Einmal hing eine Quest, ein anderes Mal stürzte die Playsi sang- und klanglos ab, hin und wieder marschieren Figuren durch Wände oder schweben Autos durch die Luft, aber das passiert in anderen komplexen Games dieser Größenordnung auch.

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Grafik & Sound

Technisch ist Cyberpunk auf der PS5 bisher noch etwas enttäuschend, was aber nicht verwundert, da die angepasste NextGen-Version ja erst in einigen Monaten kostenlos nachgereicht werden soll. Die kurzen Ladezeiten und die Bildrate von 60 fps gibt’s aber schon jetzt. Und die Spielewelt fasziniert auch jetzt bereits schon, was aber dann weniger an einer beeindruckenden Grafik liegt. Die ist ok, mehr aber auch nicht.             

Der Sound dagegenist jetzt schon klasse. Ich spiele Cyberpunk auf Deutsch und finde, dass die deutsche Synchro ebenso überzeugend ist wie der hervorragende, stets stimmige Soundtrack und die vielen Hintergrundgeräusche, Gespräche der NPCs und was weiß ich noch alles, was eben den akustischen Eindruck eine futuristischen Metropole stimmig und glaubhaft werden lässt. 

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Fazit

Die Erwartungen an Cyberpunk 2077 waren nach all den Jahren ins Unermessliche gewachsen, und eigentlich musste das Game daran scheitern, tat es dann aber doch nicht. Natürlich ist es nicht fehlerfrei: die oft wacklige KI, die Loot-Überflutung, das eigentlich fast überflüssige Crafting, das unnötig kompliziert-unverständliche Hacking-Feature, die zum Teil fürchterliche Fahrphysik und natürlich auch die vielen Bugs auf einigen Plattformen – das alles sind Baustellen, an denen CD Project Red noch viel arbeiten muss.

Für das alles aber entschädigt eine unglaubliche, lebendige, atemberaubende  Spielewelt, die mit ihrer Vielfalt und mit ihren dystopischen Visionen schon alleine Grund genug wäre, sich täglich stundenlang mit Cyberpunk 2077 zu beschäftigen – die dort innewohnende Atmosphäre ist einzigartig. Das Spiel setzt aber mit der tollen Story, mit den Charakteren, an die man sich noch lange erinnern wird – nicht nur an den großartigen Keanu Reeves – mit extrem viel Entscheidungsfreiheit und vielen Spielmöglichkeiten und den abwechslungsreichen Missionen noch einiges drauf. Cyberpunk ist ein Meilenstein, ist kolossal, bahnbrechend und faszinierend.

Game: Cyberpunk 2077
Genre: Action RPG
Release: 10.12.2020 (PS4, Xbox One, PC, Google Stadia – PS5 und Xbox Series per Update 2021)
Entwickler/Publisher: CD Project RED
USK: ab 18
Sprachausgabe/Texte: Deutsch/Deutsch
Webseite: https://www.cyberpunk.net/de/de/
Wertung: 9 von 10