Vor rund 2,5 Jahren überraschte uns Saber Interactive mit der ungewöhnlichen Offroad-Simulation „Spintires: Mud Runner“. Mit dicken Karren durch den Dreck balancieren, ohne dass die umkippen, steckenbleiben, irgendwo runterfallen oder am Spritmangel verrecken und dabei noch Liefermissionen ausführen. Was sich verdammt trocken anhörte, aber erstaunlicherweise recht unterhaltsam war. Trotz mieser Kamera- und altbackener Benutzerführung. Dafür punktete das Game mit detaillierten Originalkarren, herausragender Physik, einer guten Steuerung, reizvollen abwechslungsreichen Landschaften und sogar einem kooperativen Mehrspielermodus.
Wie, nie gespielt? Selber schuld. Aber kein Problem, jetzt gibt es den Nachfolger. Der heißt nicht etwa Mud Runner 2, sondern „SnowRunner“ und ist angetreten, die Macken des Vorgängers in Grund und Boden zu fahren und überall noch einen drauf zu setzen. Oder zwei. So der Plan. Aber ist der auch aufgegangen?
Audio/Podcast zum Gamecheck:
Rolling, rolling, rolling… im Schneckentempo
Ich starte irgendwo in Michigan in einem Pickup. Meine Tutorial-Aufgabe: Suche den Wachturm. Kein Problem, denke ich, immerhin sehe ich den schon einen knappen Kilometer entfernt. Doch ein Problem, oder besser: Zwei, stelle ich schnell fest. Denn zum einen scheint das Örtchen Black River an akuter Asphaltarmut zu leiden. Wenn da schon mal eine Straße geteert wurde, dann reichte das gerade mal für einige Meter, dahinter erwarten mich wieder Schlamm und Morast.
Zum anderen ist mein Pickup quälend lahm. Selbst auf den kurzen Asphaltabschnitten befürchte ich ständig, von betagten Senioren mit Rollator überholt zu werden. Wobei diese Sorge unbegründet ist, da in Black River scheinbar eh niemand wohnt. Keine Passanten, keine anderen Autos, nicht mal ein Hund ist auf den Straßen zu sehen. Vermutlich alle weggezogen, wegen der schlechten Straßen.
So eier ich mit der Hand auf der PC-Tastatur im Schneckentempo durch Schlamm und Geröll. Was sich eigentlich richtig gut anfühlt. Vierradantrieb rein, kleine Übersetzung, wenn es besonders haarig wird, wobei ich mich an die Schalterei mittels Shift-Taste plus Mausgeschiebe erst kurz gewöhnen muss, geht aber. Später wechsele ich dann aber – mangels Lenkrad – doch auf das Gamepad.
Im Wendekreis des Trucks
Gefühlt Stunden später am Turm angekommen, steige ich in einen Truck um, einen GMC MH9500, der anscheinend schon zu Kennedys Zeiten da rumstand. Erster richtiger Auftrag: Stahl und Holz im städtischen Lager abholen und zur Baustelle an der Brücke bringen. Also Karte geöffnet, Strecke markiert und nach Gefahrenpunkten abgesucht und ab geht’s.
Am Lager angekommen (nachdem ich noch eben ein Verkehrsschild umgenietet habe, weil ich den Wendekreis des Trucks unterschätzt hatte) lasse ich mir die Ladung auf Knopfdruck automatisch aufladen. Geht auch per Kran und Handsteuerung, aber man muss ja nun wirklich nicht alles simulieren.
Unterwegs eben noch an der Tanke gehalten und im Formel1-Tempo den 240L-Tank wieder vollgemacht und weiter. Um kurz darauf vor einer Straßensperrung zu stehen. Mist, hatte ich auf der Karte übersehen. Also wieder zurück und mit dem wild schaukelnden Truckmonster durch den Wald inklusive Bachdurchfahrt. Läuft.
Wieder zurück auf dem Asphalt mahnt mich ein Schild, nicht schneller als 55 Meilen zu fahren. Ja nee ist klar, denke ich, schon bei 25 würde ich einen ausgeben. Aber in der Langsamkeit liegt die Kraft, und SnowRunner ist ja nun kein Racer, sondern ein Geschicklichkeitsspiel. Aber wo ist eigentlich der Snow? Und warum dann Runner? Fragen über Fragen. Sinnierend sitze ich in der Fahrerkabine, mache mir so meine Gedanken und lasse die schöne Landschaft an mir vorüberzuckeln, während die Sonne langsam über den Horizont kippt und die Wälder rötlich schimmern.
Ich winde mich
An der Baustelle angekommen, lasse ich den Stahl automatisch entladen. Ein Video zeigt, wie der postwendend verbaut wird und die Brücke wächst. Aber es fehlt noch Holz. Also ab zum Sägewerk. Arbeitet um die Zeit eigentlich da noch jemand?
Nur im Licht meiner Scheinwerfer taste ich mich über den von Spurrillen zerfrästen Waldweg. Endlich taucht das Holzlager vor mir auf. Eben eine Palette Planken aufladen, dann zurücksetzen, zurück zur Brücke und Feierabend. So mein amateurhafter Plan. Dem dann jedoch die Realität in Form eines gewaltigen Schlammlochs direkt vor dem Hänger in die Quere kommt, den ich übermütigerweise auch noch ankoppeln will. Die Hinterräder drehen durch, Schlamm spritzt nach allen Seiten, ich habe mich komplett festgefahren. Da hilft mir auch die Winde nicht mehr, die ich am nächsten Mast befestige. Dreck.
Ich könnte alternativ auch in einen Ersatztruck steigen und versuchen, meinen festgefahrenen GMC aus dem Dreck zu ziehen. Wenn ich denn einen hätte. Habe ich aber nicht. Da gibt es nur noch einen Ausweg: Die Option „Bergen“ wählen und vom Startplatz aus mit vollem Tank einen neuen Anlauf versuchen. Und dieses Mal einfach den Hänger noch mal ignorieren – Trial & Error. Nach getaner Arbeit steige ich Fahrerrang auf (was mir Erfahrungspunkte, Geld und damit auch neue Möglichkeiten beschert), außerdem kann ich nun über die Brücke die Halbinsel verlassen und endlich auch eine Werkstatt aufsuchen.
Drei Spielgebiete und viel Freiraum
Neben Michigan winken auch noch das verschneite (aha!) Alaska und das nordrussische, leicht sumpfigen sibirischen Taymir als Spielewelt, die ihr frei erkunden könnt. Insgesamt ist die Karte jetzt vier Mal größer als beim Vorgänger Mud Runner. Erweitert wurden auch die Aufträge: Durftet ihr damals nur Holz transportieren, so warten jetzt auch Bergungsmissionen, verschiedene Lieferaufträge und dergleichen mehr. Die Hauptmissionen sind dabei schön ins Spielgeschehen integriert: Räumt Ihr z.B. eine Straße vom Steinschlag, so erweitert ihr damit auch eure Spielewelt.
Bei den Aufträgen habt ihr viel gestalterischen Freiraum. Ihr müsst selber herausfinden, welches Fahrzeug ihr am besten einsetzt, mit welchen Upgrades ihr es ausrüsten solltet und welcher Weg der beste – bzw. der einzig mögliche ist. Oft empfiehlt es sich da, die Strecke vorher mit einem leichten Scoutwagen zu erkunden, um eventuelle Hindernisse wie reißende Gewässer, zugefrorene Seen oder enge Felspassagen vorab einzuplanen.
Ein großer Fuhrpark und die Türme von Ubisoft
Je größer euer Fuhrpark, desto mehr Möglichkeiten habt ihr. Mit der Zeit könnt ihr euch so Spezialfahrzeuge für jeden Einsatzzweck zusammenzimmern. Es braucht aber einiges an Erfahrung, bis ihr raushabt, mit welchem Truck ihr denn nun an die Arbeit gehen sollt.
Um neue Gebiete samt Details auf der Karte zu sehen, müsst ihr zudem in bester Ubisoft-Manier Wachtürme anfahren – da fehlt nur noch der Adler und der Sprung in den Heuhaufen. Und nein, klettern müsst ihr auch nicht. Schon deshalb nicht, weil ihr euren Wagen nie verlasst. Und nein, ich weiß nicht, wo euer Fahrer dann aufs Klo geht.
Insgesamt 40 Originalfahrzeuge können freigeschaltet werden. Da finden sich legendäre Schwerlast-Trucks wie der Pacific P16 oder der Caterpillar 745, leichte Scouts wie der Chevrolet CK1500 oder der Lada Niva oder Highway-Zugmaschinen wie der Freightliner 114SD, die sich dann mit Schneeketten, Ansaugschnorchel, neuen Reifen, stärkeren Motoren, größere Ladefläche und dergleichen mehr hochrüsten lassen; und auch an der Optik eurer Wagen könnt ihr basteln.
Fast wie bei den Outback Truckers
Das Fahrverhalten der Ungetüme auf Matsch, Schnee und Eis und ihre physikalische Interaktion mit dem Untergrund ist ein Gedicht. Die Trucks schaukeln, fressen sich heulend durch den Dreck, über Felsen und steile Hänge hinauf. Besonders in der Cockpit-Perspektive hat man so das Gefühl, wirklich mittendrin dabei zu sein – wirbelnde Hände am Lenkrad inklusive.
Dazu verhilft auch die großartige Optik. Wenn ich meine Winde an einem Baum befestige um zu versuchen, mich aus einem hüfttiefen Schlammloch zu befreien, und der Baum sich dann unter der Last biegt (und ich mich frage, ob er das wirklich aushält), der Matsch nach allen Seiten spritzt – dann ist das Outback-Truckers live. Dazu kommen die tollen Tag/Nacht-Wechsel, eindrucksvolle Fahrzeugmodelle und die oft sehr ansehnliche Spielewelt – die allerdings (wie schon erwähnt) komplett tot ist, kein Lebewesen, kein anderes Fahrzeug weit und breit.
Kleine Kratzer im Lack und geteiltes Leid
Womit ich dann bei den kleinen Macken des SnowRunners bin. Dazu gehört das Schadenssystem, das zwar vorhanden, aber eher zahm und nicht weiter spielentscheidend ist, wird mein Bolide doch automatisch in jeder Werkstatt komplett und kostenlos automatisch wieder repariert. Ebenfalls unschön: Auf Asphalt ist die Steuerung der Scouts doch extrem schwammig, die Spielewelt ist nicht durchgehend, sondern besteht aus einzelnen, durch Tunnel verbundene Maps und die Kamera hat mitunter so ihre Aussetzer – letzteres kennen wir ja noch vom Vorgänger.
Aber geteiltes Leid ist ja bekanntlich halbes Leid. Und teilen dürft ihr hier in Form eines 4-Spieler-Koop-Multiplayers. Da kann man sich dann schon mal gegenseitig durch den Schlamm helfen und besonders haarige Aufträge gemeinsam angehen. Und davon gibt es jede Menge.
Fazit
SnowRunner ist kein Spiel für Racer Fans oder ungeduldige Naturen. An manchen Aufträgen knabbert ihr schon mal stundenlang, und um sich im Schneckentempo durch den Matsch zu wühlen oder an der perfekten Route zu arbeiten gehört eine Menge Nervenstärke und Sitzfleisch. Es ist so was wie die PS starke Version von Death Stranding. SnowRunner hat etwas meditatives, nur unterbrochen von einigen Adrenalinschub-Momenten. Und – wenn man dann endlich am Ziel ist oder sich erfolgreich die Erkundung eines neuen Landschaftabschnitts erkämpft hat, auch zutiefst befriedigend. Wenn man dafür offen ist.
Game: SnowRunner
Genre: Schwerlast-Offroad-Simulation
Release: 28.04.2020 (PS4, Xbox One, PC)
Entwickler: Saber Interactive
USK: Ab 0
Sprachausgabe/Texte: - /Deutsch
Wertung: 8 von 10